"Wassernot im "Tal der Pferde"

"Wassernot im "Tal der Pferde"
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    "Wassernot im "Tal der Pferde"
Aktion ADVENIAT 2007-11-07
Leitthema Gerechtigkeit

Ist Deutschland noch ein gerechtes Land? Nichts fürchten die Menschen so sehr wie die wachsende Ungleichheit. Und das zu Recht: Arm und Reich driften schneller auseinander als in allen anderen westlichen Industrienationen. Um die Folgen dieser Entwicklung abzuschätzen, lohnt ein Blick nach Lateinamerika. In keinem anderen Kontinent sind Vermögen und Zukunftschancen so ungerecht verteilt, stehen sich Arm und Reich derart unvermittelt gegenüber. Droht uns die Lateinamerikanisierung?

„Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten" lautet in diesem Jahr das Motto der ADVENIAT-Weihnachtsaktion. Das katholische Lateinamerika-Hilfswerk rückt dabei eine Bevölkerungsgruppe in den Mittelpunkt, die wie keine zweite Opfer von Ungerechtigkeit wurde: die Indianer der Andenregion. Auch wenn ein Ende der Jahrhunderte währenden Diskriminierung nicht in Sicht ist: anhand seiner Projekte und durch das Zeugnis seiner Partner zeigt ADVENIAT, wie Menschen sich eigenständig aus Ungerechtigkeit befreien und aktiv für Chancengleichheit eintreten. Die Kampagne will engagierte Menschen in Deutschland dazu ermutigen, sich gemeinsam mit den Partnern in Lateinamerika für eine Zukunft in Würde einzusetzen.

Spendenkonto 345, BLZ 360 602 95 (Bank im Bistum Essen eG)



Eine Reportage von Christian Frevel



Argentinien
Wassernot im „Tal der Pferde“
Padre Tono hilft den Mapuche-Indianern im argentinischen Neuquén,
ihre Rechte einzufordern

„Früher war alles anders.“ Don Mariano Neculguan ist kein Mann langer Reden, und bedächtig nickt er am Schluss jedes Satzes mit dem Kopf. „Früher lebten hier nur Mapuche. Es gab ausreichend Wasser, im Winter fiel Schnee und im Sommer fanden die Pferde ausreichend Futter.“ Heute, ergänzt Alberto, der jüngste Sohn des 78-jährigen Don Mariano, heute gebe es im Sommer kein Wasser mehr im Tal, die Tiere verendeten, und immer mehr Familien müssten ihre angestammten Ländereien verlassen, weil sie keine Lebensgrundlage mehr hätten – oder weil der Staat Firmen oder Privatpersonen das Land verkauft hat.
Don Mariano gehört dem Volk der Mapuche-Indianer an. Mit seiner Frau Fidelina hat er zwei Söhne und drei Töchter großgezogen. Alberto ist der Einzige, der noch im Weiler Mallín de los Caballos (zu deutsch: Tal der Pferde) lebt. Ein abgeschiedenes Stück Erde: Drei Stunden sind es im Auto bis nach Zapala, der nächsten größeren Stadt mit Busbahnhof, Autowerkstatt und Supermarkt. Weitere vier Stunden dauert die Busfahrt bis zur Regionalhauptstadt Neuquén. Im „Tal der Pferde“ gibt es kein Telefon, kein Mobilfunknetz, keine asphaltierten Straßen. Einziger Kontakt der Familie in die Außenwelt ist ein batteriebetriebenes Radio.
Von der Veranda des einfachen Hauses geht der Blick weit über eine Steppenlandschaft hinüber zu den Bergen, den Ostausläufern der argentinischen Anden. Jetzt, im Spätsommer, ist die Landschaft braun gefärbt. Nur vereinzelt stehen ein paar Pferde auf den verdorrten Wiesen. „Die Flüsse führen kein Wasser mehr, und viele Quellen sind versiegt“, berichtet Alberto Neculguan. Der 36-Jährige ist ehrenamtlicher Mitarbeiter der Indianer-Pastoral des Bistums für den Bereich Zapala. Die Situation im Ort Mallín de los Caballos ist kein Einzelfall. In vielen Regionen Patagoniens wird Wasser zum knappen Gut. Die Schneeschmelze bringt eigentlich genug Wasser von den Bergen und Gletschern zu Tal, doch immer mehr wird das Wasser von Unternehmen genutzt, die das kostbare Gut abschöpfen und verkaufen. Die Nationale Katholischen Indianerpastoral Argentiniens (ENDEPA) vermutet, dass neben der wachsenden wirtschaftlichen Nutzung des Wassers durch Industrie und Tourismus auch der Klimawandel dazu beiträgt, dass die Mapuche Probleme haben, ausreichend Wasser zu bekommen.
Forscher haben festgestellt, dass die Gletscher Patagoniens langsam aber sicher schmelzen. Und der für den Regen notwendige Westwind, der die Wolken vom Atlantik her an die Andenhänge trägt, bleibt immer häufiger aus. „Bis heute wissen wir nicht, ob dies Folge des Klimawandels im Allgemeinen oder Folge des Klimaphänomens El Niño ist“, sagt Pater Antonio Sánchez. „Inzwischen herrscht in den Tälern ein fast ständiger, kalter Wind aus Osten, der trocken aus der chilenischen Wüste kommt und keinen Regen bringt.“ Padre Antonio, Priester im Orden der Salesianer, ist seit einigen Jahren Koordinator der Indianerpastoral in Zapala. Mit seinem von ADVENIAT in Deutschland finanzierten Allradwagen legt er fast täglich mehrere hundert Kilometer zurück, um die weit verstreuten Mapuche-Gemeinschaften zu besuchen. Neben den Gottesdiensten, den Besuchen in den Familien und bei den Kranken, neben der Katechese und Sorge um die Kapellen muss sich Padre „Tono“, wie der 56-jährige Ordensmann von allen genannt wird, immer häufiger der Menschenrechtsfrage widmen.
Heute, beim Besuch in der Familie Neculguan, ist das nicht anders. Sohn Alberto berichtet von den beiden Anzeigen, die er bekommen hat, weil er mit den Pferden und Rindern der Familie auf die „veranada“, die höher gelegenen Sommeralmen an den Berghängen ziehen wollte: Weiden, die seit Menschengedenken von den Mapuche-Indianern genutzt wurden, sind plötzlich eingezäunt und somit für den Durchzug versperrt: Die Regierung hat das Gelände verkauft, die neuen Besitzer verwehren den Indianern den Durchtrieb der Herden.
Kein Einzelfall: Immer wieder klagen Mapuche-Gemeinden in den argentinischen Anden über widerrechtliche Aneignungen von Weidegründen durch Privatpersonen, Firmen oder auch das argentinische Militär. In einer viel beachteten Schrift haben
die argentinischen Bischöfe auf diesen und andere Missstände hingewiesen, unter
denen die Indianer in Argentinien leben. „Una Tierra para Todos“ – „Ein Land für Alle“ ist das 2006 veröffentlichte Papier der Bischöfe überschrieben. Federführend war der Vorsitzende der Bischöflichen Kommission für die Indianerpastoral, der „Pastoral Aborigen“, Bischof Marcelo Melani von Neuquén. „Die Frage des Landes sollte vom Staat stärker unter politischen Aufgaben angegangen werden“, sagt Bischof Melani. „Denn die Landfrage ist ein komplexes Problem, das die Indígenas, die lokalen Bauern und die Stadtbevölkerung betrifft; denn es ist zugleich die Frage nach den Wasserrechten.“ Bischof Melani weist darauf hin, dass von den 900 indianischen Gemeinschaften im Bistum Neuquén etwa zwei Drittel keine verbrieften Landrechte besäßen, sondern sich auf Gewohnheitsrechte stützten.
Padre Tono hört aber auch die Beschwerden von Don Mariano, der über die zunehmende Staubbelastung der Luft klagt. Denn oberhalb der Gemeinschaft, am Hang des „Cerro Manzán“, baut eine Firma aus Buenos Aires Kalkstein ab. Aus dem Steinbruch weht der stete Westwind feinsten Kalkstaub ins Tal, der sich überall als weiße Schicht niederlegt, den Mund trocken macht und von den Tieren mit der Nahrung aufgenommen wird. „Die brauchen daher noch mehr Wasser, das wir nicht mehr haben“, sagt der Alte.
Alberto hat auf die Missstände bereits öffentlich hingewiesen und protestiert. Auch im Radio; denn Alberto ist Mitarbeiter der Radiosendung der Indianerpastoral in Zapala. Das Radio ist in der dünn besiedelten Region Patagoniens das wichtigste Kommunikationsmittel. Der regionale, staatliche Radiosender stellt der Indianerpastoral der Diözese einmal in der Woche zwei Stunden Sendezeit zur Verfügung: die einzige Sendung, die auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche gesendet wird. Entsprechend hoch ist die Bindung der Hörer an das Programm, das vom deutschen Priester Martin Göttler koordiniert wird. Alberto Neculguan und auch Padre Tono sind regelmäßig zu Gast in der Sendung.
Vor zwei Jahren, als der Steinbruch angelegt wurde, hat das Dorf protestiert – seitdem ist die Straße, die den direktesten Weg vom Dorf zur asphaltierten Hauptstraße bildet, durch einen Schlagbaum gesperrt. Die Mapuche müssen jetzt einen längeren Umweg in Kauf nehmen.
Der Weg zur Schule ins Tal hinein ist auch für die Kinder, die auf den Höhen wohnen, durch die Sperrung deutlich weiter geworden. Die Schule zählt 80 Kinder, und sie ist eine der wenigen Schulen, in denen zweisprachig unterrichtet wird. Julian Zuñiga ist der Lehrer für Mapudungun, die Sprache der Mapuche. Er sei vor allem ein „Geschichtenerzähler“, berichtet der Lehrer; denn das Mapudungun sei keine schriftliche, sondern eine mündliche Sprache. Sie lebe in den Legenden, Weisheiten und Riten des Volkes.
Julian Zuniga hat zur Feier des Besuchs von Padre Tono eine Ziege geschlachtet, und beim Mittagessen berichtet er vom Fortgang der Renovierungsarbeiten am Schulgebäude. Das Dach war undicht geworden, und auch Schlafsäle brauchen einen neuen Anstrich: Knapp die Hälfte der Kinder kommt als Internatsschüler, da sie zu weit entfernt leben, um täglich den Schulweg zurückzulegen. Sie werden am Wochenende mit einem Bus zurückgebracht. Weiterführenden Unterricht gibt es nur in der Regionalhauptstadt Neuquén. Zu weitläufig ist die Region und zu dünn besiedelt, als dass es andere Bildungsangebote für die Kinder geben könnte.
Einmal im Monat kommt Padre Tono nach Mallín de los Caballos, um im größten Raum der Schule für die Mapuche der Region den Gottesdienst zu feiern. Im Winter eine kalte Angelegenheit; denn obwohl bei Bau der Schule eine Heizung installiert wurde, kann diese nicht benutzt werden: Bis heute gibt es im Ort keinen Strom, und so kann die Gasheizung nicht gesteuert werden. Elektrizität gibt es nur im Steinbruch. „Offenbar erachtet es der Staat als nicht notwendig, dass die Mapuche im Tal ebenfalls Strom haben“, meint Padre Tono. „Es wären nur fünf Kilometer weitere Leitungen bis zur Schule gewesen.“

Fotos: Jürgen Escher
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